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Sonntag, 29. Juli 2012

BEHINDERTE IM RÖMISCHEN REICH

(Vortrag in der Reihe "Armutsproblematik im RR")


Die trunkene Alte (Anus ebria) gehört zwar weder direkt zur Gruppe der Behinderten, noch stammt sie aus dem Römischen Reich, aber sie zeigt, dass in der Kunst des Hellenismus im Gegensatz zur Klassik durchaus auch Randgruppen thematisiert wurden. EINLEITUNG

Im Römischen Reich wurden Behinderte wie viele andere Randgruppen massiv diskriminiert.
Quellen dafür sind z. B. Livius, Seneca, Martial und Galen. In einigen Punkten waren auch griechische Vorbilder prägend wie Platon, Aristoteles, Hippokrates u. a. Juristische Vorlagen findet man schon in den Zwölftafelgesetzen und in Sparta in den Lykurgischen Gesetzen.
Grundlage dieses Denkens waren die Nützlichkeitserwägung gegenüber der Gemeinschaft und das Vorrecht des "Pater familias", über seine Familienmitglieder existentiell zu entscheiden und zu richten.
Erst mit dem Christentum kam es in der Spätantike zu einer bedingten Revision dieser Beurteilung.
Grundlage dieser neuen Anschauung war die Idee, dass alle Menschen Kinder Gottes seien und die positive Einstellung Jesu gegenüber Behinderten (soweit die Überlieferung glaubhaft ist).

Der vorliegende Post enthält beispielhaft Quellen aus der römischen Zeit und ein Skript, das die Situation der Behinderten kurz erläutert (anhand von Quellen und Literatur). 


QUELLEN

Zwölftafelgesetz, Tafel IV:

Cito necatus insignis ad deformitatem puer esto.

Ein eindeutig missgebildetes Kind/Junge soll schnell getötet werden.


Seneca: De Ira I, 15:

Seneca verfasste auf Bitten seines Bruders Novatus diese unvollständige Schrift in 3 Büchern über den Zorn.
Darin beschreibt Seneca zunächst die Formen des Zorns, um sie dann zu kritisieren und statt "ira" mehr "ratio" zu fordern.

[1] Corrigendus est itaque, qui peccat, et admonitione (Erinnerung, Mahnung) et vi, et molliter et aspere, meliorque tam sibi quam alliis faciendus non sine castigatione (Züchtigung, Strafe), sed sine ira; quis enim cui medetur irascitur? At corrigi nequeunt (nicht können) nihilque in illis lene aut spei bonae capax (geräumig, weit fähig) est. Tollatur e coetu (Versammlung) mortalium facturi peiora quae contingunt, et quo uno modo possunt desinant mali esse, sed hoc sine odio. 

Und so ist zu verbessern, wer sich falsch verhält, sowohl in Bezug auf die Ermahnung also auch in Bezug auf die Gewalt, sowohl weich als auch hart und so ist es besser so für sich als für andere zu tun ohne Züchtigung, aber (auch) ohne Zorn; denn wer wird erzürnt, der geheilt wird? Aber sie können auch nicht verbessert werden und nichts ist bei jenen leicht/sanft oder guter Hoffnung fähig. Es sollen enthoben/entfernt werden von der Zusammenkunft/Gesellschaft der Sterblichen die, wenn sie alles schlechter machen, was sie berühren und lasst sie aufhören, schlechte Menschen zu sein auf die einzige Art, die sie können, aber das ohne Hass.

[2] Quid enim est, cur oderim eum, cui tum maxime prosum, cum illum sibi eripio?
Numquis membra sua tunc odit, cum abscidit? Non est illa ira, sed misera curatio.
>>Rabidos (wütend, rasend, toll) effligi (totschlagen) muscanes et trucem (rauh, wild, furchtbar) atque immansuetum (roh, ungezähmt) bovem occidimus et morbidis pecoribus, ne gregem polluant, ferrum demittimus; portentosos (wunderlich, ungeheuer, missgebildet fetus extinguimus, liberos quoque, si debiles monstrosique editi sunt, mergimus; nec ira, sed ratio est a sanis inuitilia secernere (absondern, trennen; unterscheiden).<<

Denn welchen Grund sollte ich haben, denjenigen zu hassen, dem ich dann am meisten beistehe wenn ich jenen vor sich selbst schütze? Hasst etwa jemand seine Glieder so sehr, wenn er sie abschneidet? Das/jenes ist kein Akt des Zornes, sondern der mitfühlenden Heilung. Wir schlagen tolle Hunde tot und töten einen wilden und ungezähmten Stier und kranke Schafe/Vieh, damit sie nicht die Herde infizieren, töten wir sie mit dem Messer; wir vernichten missgebildete Föten, auch Kinder, wenn sie schwachsinnig und monströs auf die Welt gekommen sind, versenken wir; aber/und es ist kein Zorn, sondern Vernunft, von den Gesunden das Nutzlose zu trennen.



[3] Nil minus quam irasci punientem decet, cum eo magis ad emendationem poena proficiat, si iudicio lata est. Inde est, quod Socrates servo ait: "Caederem te, nisi irascerer."
Admonitionem servi in tempus sanius distulit, illo tempore se admonuit. Cuius erit tandem temperatus affectus, cum Socrates non sit ausis se irae committere?Es ziemt sich nichts weniger, als wenn ein Strafender zornig ist, weil umso mehr die Strafe zur Verbesserung beiträgt, wenn sie ein überlegtes Urteil ist. 
Deshalb sagte Socrates zu dem Sklaven: "Ich würde dich töten, wenn ich nicht so wütend wäre." Er verschob die Bestrafung/Ermahnung des Sklavens auf einen ruhigeren Zeitpunkt, zu jenem Zeitpunkt tadelte/ermahnte er sich. Wer kann von sich sagen, dass sein Gemüt so kontrolliert/gezügelt sei, wenn nicht (einmal) Sokrates es wagt, sich dem Zorn anzuvertrauen?]


SKRIPT/HANDOUT

Die Einstellung der Römer zu Behinderten war bereits durch die der Griechen beeinflusst.

In Sparta war die Staatsphilosophie stark auf Erhaltung der militärischen Kampfkraft ausgerichtet.
Deshalb wurden die Kinder nach der Geburt vom Vater und auch von der Gerusia (Ältestenrat) einer Selektionsprozedur unterzogen. Der Vater führte das Kind der Gerusia vor, die dann gemäss den Lykurgischen Gesetzen bestimmte, ob es in die Gemeinschaft aufgenommen werden durfte. Die Lykurgische Verfassung berief sich auf den wahrscheinlich nicht historischen Lykurgos, der nicht nur die Regierung Spartas neu ordnete (Doppelkönigtum, Gerusia und Apella), sondern auch die soziale Struktur der spartanischen Herrenschicht und ihre Bevölkerung regelte.
Schwache oder missgebildete Kinder wurden demnach ausgesetzt oder vom Berg Taygetos in Schluchten geworfen.

In Athen konnten behinderte Neugeborene auch getötet werden, weil man von ihnen erwartete, dass sie für den Staat nichts beitragen konnten und man ihnen umgekehrt auch keine Unterstützung gewähren wollte.
Das athenische Staatswesen basierte neben der militärischen Kraft auch auf der Stärke des Seehandels.
Es war daher auf kampfkräftige wie wirtschaftlich produktive Menschen angewiesen. Ausserdem mussten die Familien mangels staatlicher Unterstützung ihre älteren Angehörigen selbst versorgen.
Daher sprach schon die Gesetzgebung Solons (594 v. Chr.), die ansonsten in einigen Punkten von der Gleichheit der Menschen ausging, behinderten Menschen das Lebensrecht ab.
Ähnliche Positionen vertraten der Philosoph Platon (ca. 370 v.) in seinem Werk "Politeia" (πολιτεια) sowie der Arzt Hippokrates, der eine Behandlung nur dann für nötig befand, wenn sie Aussicht auf Erfolg versprach.

"Der Arzt, der die Methode der Heilung kennt, muss nur solche Kranken behandeln, wenn sie jung und arbeitsfreudig sind ... unheilbare Fälle muss man überhaupt ausweisen, zumal wenn man eine annehmbare Ausflucht hat."

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Corpus Hippocraticum; zit. nach Hans Schadewald: Die Einstellung der Gesellschaft zum Behinderten im Laufe der Geschichte, 1969, S. 33

Die Stellung der Behinderten im antiken Rom lässt sich grob mit dem in Griechenland vergleichen. Rom setzte auf sein militärisches Potential als Landmacht und vertrat in der Wirtschaft agrarische Ideale. Dafür waren einsatzfähige Bürger notwendig. Deshalb übte in der römischen Gesellschaftsordnung der Vater ("Pater familias") eine unumschränkte Verfügungsgewalt über seine Frau und seine Kinder aus.
Er konnte ein neugeborenes Kind einfach töten lassen. Das war bei den meisten missgebildeten Kindern der Fall, konnte aber auch bei Mädchen vorkommen. Ein Vater konnte seine Kinder auch später noch töten lassen.

Das Zwölftafelgesetz von ca. 451 v. Chr. empfiehlt sogar ausdrücklich die Tötung behinderter
Kinder (vgl. auch Solons Gesetzgebung).
Die Tafel IV beschäftigte sich im Kern mit Familienrecht:
"Cito necatus insignis ad deformitatem puer esto."
Ein eindeutig missgebildetes Kind/Junge soll schnell getötet werden.

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Dieter Flach: Das Zwölftafelgesetz. Leges XII tabularum; Darmstadt 2004
Der Heilpädagoge Max Kirmsse kommentierte das in seiner Geschichte der frühen Krüppelvorsorge so: "Vielfach wurden sie auf die Strasse geworfen, in dem velabrenischen See, wo die Kloaken der Stadt ausmündeten, ertränkt, in Wüsten, Wälder, an den Tiber, auf den Gemüsemarkt gelegt."

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Max Kirmsse: Zur Geschichte der frühesten Krüppelvorsorge; 1911, S. 5

Wenn behinderte Kinder aber nicht getötet wurden, konnte es sein, dass sie versklavt wurden oder ihr Leben als Narren und Komiker fristen mussten. Versklavt wurden v. a. Kinder, bei denen eine Behinderung erst spät auffiel.

Was Narren ("moriones") betrifft, so wurden v. a. Verkrüppelte, Kleinwüchsige oder geistig Behinderte eingesetzt. Am liebsten waren vielen Unternehmern kombinierte geistig-körperliche Behinderungen. Das lies die Narrenmärkte ("forum morionum") boomen.

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Max Kirmsse: Vielfach wurden sie auf die Straße geworfen, in dem velebrensischen See, wo die Kloaken der Stadt ausmündeten, ertränkt, in Wüsten Wäldern, an den Tiber, auf den Gemüsemarkt gelegt; 1911, S. 5

Ein weiteres denkbares Los für Behinderte war die Bettelei. Manchmal wurden wegen des Mitleidseffekts die Verunstaltungen sogar verstärkt.

Als zeitgenössische Quelle für das Los der Sklaven gilt u. a. Seneca:

"Diesem Sklavenherren zum Nutzen schwanken die Blinden auf den Stab gestützt einher, ihm zum Vorteil zeigen die anderen die verstümmelten Arme, die verrenkten Knöchel ... Jener Beinzermalmer haut dem einen den Arm ab, schwächt den anderen, verdreht diesem ... die Schulter, damit er höckrig werde"

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Seneca, De ira; zit. nach: Hermann Meyer: Geistigbehindertenpädagogik; in: Solarova Svetluse (Hg.): Geschichte der Sonderpädagogik; Stutgart etc. 1983
S. 80 ff

"Wir schlagen tolle Hunde tot und töten einen wilden und ungezähmten Stier und kranke Schafe/Vieh, damit sie nicht die Herde infizieren, töten wir sie mit dem Messer; wir vernichten missgebildete Föten, auch Kinder, wenn sie schwachsinnig und monströs auf die Welt gekommen sind, versenken wir; aber/und es ist kein Zorn, sondern Vernunft, von den Gesunden das Nutzlose zu trennen."    

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Seneca, De ira I, 15, 2

Seneca beschrieb nicht nur das Los der Sklaven, sondern kritisierte es auch. Dabei mag ihm sicher auch seine stoische Grundeinstellung geholfen haben, obwohl er deren Moralvorstellungen nie ganz mit seinem eigenen Lebensstil in Einklang bringen konnte. Seneca soll Geistesschwache in sein Haus aufgenommen haben, die von der Gesellschaft ausgestossen waren. Gleichzeitig forderte er aber von den Menschen, für die Gesellschaft nützlich zu sein, da sonst das Leben sinnlos sei.

Speziell für die als Narren eingesetzten Behinderten lässt sich auch der Dichter Martial als Gewährsmann anführen, der in einem Epigramm schildert, wie ein geschäftstüchtiger Händler einer reichen Dame sogar einen gesunden als Narren verkaufen will:
"Narr sein sollte er, ich habe ihn für zwanzigtausend gekauft. Gib sie mir, Gargilian, wieder, er ist bei Verstand!"

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Martial; zit. nach: Max Kirmsse; in: der Schwachsinnige und seine Stellung im Kulturleben der Vergangenheit und der Gegenwart, S. 85

Man kann sich also den Sadismus in der damaligen römischen Gesellschaft nicht gross genug vorstellen. Die Behinderte, die auf der Strasse zur Schau gestellt wurden, sollten am besten körperlich wie geistig behindert sein.

Ein Bewusstseinswandel setzte erst allmählich mit dem Christentum ein, dass sich im 4. Jhd. durchsetzte.

Wurden im Alten Testament noch Krankheit und Behinderung wird mit Schuld und Sünde in Zusammenhang gebracht, für die es zu sühnen gelte, schlägt das Neue Testament schon einen anderen Ton an: Jesus sieht Krankheit nicht mehr als Strafe für Sünde an. Er sieht die Menschen alle als Kinder Gottes.
Das zeigt sich beispielhaft bei Johannes 9 1-3 (ferner -9/-12),
hier in der Einheitsübersetzung:

"Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war.

Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst?
Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?

Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden."

Zusammenfassend kann man also sagen, dass in der Spätantike im Römischen Reich - auch durch die Christianisierung - ein Bewusstseinswandel gegenüber Behinderten stattfand, ähnlich wie das auch bei anderen Randgruppen oder bei Gladiatoren passierte. Es ist allerdings schwer zu überprüfen, in wie weit diese geistesgeschichtlichen Veränderungen auch empirisch Anwendung fanden.


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