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Mittwoch, 12. Juni 2013

AUFSATZ/VORTRAG: KAPITALISMUSKRITIK ALS SÄKULARE HEILSLEHRE - DIE ENTWICKLUNG DES SOZIALISMUS VON DER UTOPIE ZUR WISSENSCHAFT


Französische Erstausgabe, 1880

1. Der Anspruch auf eine Wissenschaftlichkeit des (eigenen) Sozialismus -  
Hauptschrift: "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (F. Engels)

Die "Entwicklung" ist eine Schrift von Friedrich Engels aus dem Jahre 1880 und gleichzeitig auch ein Postulat, einen Sozialismus auf wissenschaftl. Grundlage zu entwickeln, der sich vom früheren, "utopischen abgrenzt.

Die Schrift basiert auf der Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" ("Anti-Dührung")
von Karl Marx und Friedrich Engels, die 1877 f  im Vorwärts publiziert wurde. Die Schrift war ursprünglich (Titel!) als eine Auseinandersetzung mit Eugen Dühring innerhalb der Sozialdemokratie konzipiert, wurde aber de facto zu einer Programmschrift, die Grundzüge des Marxismus darlegt. Dabei geben Marx und Engels aber ihre Version des Sozialismus wieder und grenzen diese von anderen Vorstellungen deutlich ab.

Kernaussagen:

- Def. "moderner Sozialismus":
1. Inhalt: Erzeugnis der Anschauung der gesellschaftlichen Klassengegensätze und der in der Produktion herrschenden Anarchie
2. Theorie: Anknüpfung an die Ideen der franz. Aufklärung, zentrale Rolle des "denkenden Verstandes"
-> Gegensatz zwischen (materiellem) Inhalt und Theorie; "Welt auf den Kopf gestellt" (Hegel)

- das "Reich der Vernunft" der frz. Aufklärung ist materiell nichts anderes als das "Reich der Bourgeoisie":
a) Gerechtigkeit > Bourgeoisjustiz
b) Gleichheit > bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz
c) Menschenrecht auf Eigentum hat Priorität
-> Vernunftstaat (Rousseaus Gesellschaftsvertrag) > bürgerlich-demokratische Republik

- Hauptproblem: die bürgerliche Klasse gibt sich als Vertreterin der ganzen (nicht-feudalen) Gesellschaft;
sie nimmt aber nicht die Interessen des citoyens (Staatsbürger) wahr, sondern des bourgeois (Besitzbürger)

- bei jeder bürgerlichen Bewegung zeigten sich aber schon proletarische Anteile (unfertige Klasse):  Reformation/Bauernkrieg > Wiedertäufer und Thomas Müntzer, englische Revolution > Leveller,
französische Revolution > Baboeuf;

- daneben gab es auch erste Ansätze einer modernen Theoriebildung:
a) frühe utopische Schilderungen idealer Gesellschaftszustände,
b) kommunistische Theorien (Morelly, Mably; "asketischer/spartanischer Kommunismus"),
-> Gleichheitsforderung nicht nur auf politische Rechte beschränkt
c) utopischer Sozialismus (heute: Frühsozialismus), vertreten durch Saint-Simon, Fourier, Owen u. a.
-> Befreiung nicht einer Klasse, sondern der ganzen Menschheit;
trotzdem ist für Engels eine Abgrenzung von der "unvernünftigen" bürgerlichen Welt der Aufklärer nötig;
dass die wirkliche Vernunft jetzt erkannt wird, liegt am "genialen einzelnen Mann"

- die "ewige Vernunft" der Aufklärung war nichts anderes als der "idealisierte Verstand des (...) zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers"

- französische Revolution: der "Vernunftsstaat" (Rousseauscher Gesellschaftsvertrag) ging in die Brüche und brachte eine Schreckenszeit (la terreur), ein korruptes Direktorium und dann napoleonischen Despotismus hervor
-> endloser Eroberungskrieg statt ewigem Frieden

- die Beseitigung der Privilegien wurde zu einer "Freiheit des Eigentums", aber sie verstärkte den Druck auf die wirtschaftliche Abhängigen (Kleinbürger und Kleinbauern);
[mit der Beseitigung der Privilegien wurden auch kirchliche Sozialeinrichtungen dezimiert]
-> die Freiheit des Eigentums wird erlebt als "Freiheit vom Eigentum"

- zusätzlich zur französischen Philosophie des 18. Jhd.s trat die deutsche Philosophie und fand - nach Engels Meinung - in Hegel ihren Abschluss
-> Wiederaufnahme der Dialektik der alten Griechen (v. a. Aristoteles) als der "höchsten Form d. Denkens"
-> der Mensch erkennt die Bedeutung von Bewegung, Veränderung, historischer Zielgerichtetheit...

- in der neuzeitlichen Philosophie gab es zwar auch Dialektiker (z. B. Descartes und Spinoza), diese Ansätze blieben aber durch englischen und später französischen Einfluss immer mehr in der Metaphysik stecken

- trotz seiner Leistungen ist der Hegelsche Idealismus nicht ausreichend, weil er epochal beschränkt war und "alles auf den Kopf stellte"; er musste daher durch den Materialismus abgelöst werden

- naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn, ökonomische Umwälzungen und Klassenkämpfe im 19. Jhd. unterstützten diesen Prozess

=> der Weg zu einem wissenschaftlichen Sozialismus ist geebnet


2. Friedrich Engels und der Historische Materialismus

- Engels beansprucht eine exakte Wissenschaft zu betreiben

-> Historischer Materialismus soll objektiver Wahrheit entsprechen

- der Historische Materialismus betrachtet den Geschichtsverlauf als eine durch sozioökonomische Prozesse gesetzmässig bestimmte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft

- materielle Triebkräfte der Gesellschaftsentwicklungen sind sozioökonomische Widersprüche, die die Gesellschaftsformationen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen kennzeichen

- es kommt gesetzmässig zur Herausbildung einer neuen Gesellschaftsformation

- Anwachsen der Produktivkräfte vergrößert Widersprüche der Produktivverhältniss

-> Widersprüche verschärfen den Klassenkampf – Produktionsverhältnisse werden umgeworfen
und auf nächste Stufe gehoben.

- die verschiedenen Stufen des Historischen Materialismus:

Urgesellschaft/Stammesgesellschaft: gemeinsames Eigentum, keine Klassen
Sklavenhaltergesellschaft: Sklavenarbeit, Sklavenhalter und Sklaven
Feudalismus: Ständegesellschaft, Lehnsherrn und Leibeigene
Kapitalismus: Lohnarbeit, Bourgeoisie und Proletariat
Sozialismus: Diktatur des Proletariats (verschärfung des Klassenkampfes), Produtionsmittel in
der Hand des Proletariats
Kommunismus: Klassenlose Gesellschaft, absterben des Staates

- Kommunismus als statisches Ende der Geschichte

- Verschärfung des Klassenkampfes kann als Automatismus aufgefasst werden

-> Determinismus

- Geschichtsverlauf führt unausweichlich zum Kommunismus (ähnlich einem endzeitlichen
Versprechen; Eschatologie)

-> Gefahr, der Auffassung des Historischen Materialismus als Versprechen des
Paradieses im Diesseits.


3. Lenins Geschichtsverständnis: Historischer Materialismus mit Modifikationen

- Lenins Geschichtsverständnis beruht auf der Grundlage des Historischen Materialismus von Marx und Engels; Lenin führt aber aufgrund der ausbleibenden Revolution in den entwickelten Industrieländern an ihrer Lehre eine Reihe von Modifikationen durch

- bestimmte Entwicklungsstufen müssen durchlaufen werden

- aber: in den entwickelten Industrieländern hat sich eine "Arbeiteraristokratie" herausgebildet, die nur noch über ein trade-unionistisches (gewerkschaftliches) Bewusstsein verfügt und nicht mehr über ein revolutionäres; diese Arbeiteraristokratie profitiert von der Ausbeutung unterentwickelter Länder auf dem Weltmarkt
[der Begriff Arbeiteraristokratie wurde schon von Marx/Engels gebraucht, aber von Lenin verschärft]
-> Imperialismustheorie

- aber: Möglichkeit des schnelleren Durchlaufen einer Stufe (mit nachgeholter kaptitalistischen Entwicklung und unter Herrschaft der Kommunistischen Partei)
-> gerade bei Lenin von besonderer Bedeutung: Gewalt

- Gewalt = integraler Bestandteil von Revolutionen; notwendig zum stürzen einer
Klasse und dem etablieren einer neuen Klassenherrschaft (bei Marx bzw. Engels war dieser
explizite Bezug noch nicht derart konkret).


4. Problematische Wirkung des wissenschaftl. und historisch-determ. Sozialismusverständnisses:
Hauptschrift: "Der Dampf-Marxismus von Friedrich Engels" (Michael Vester)

- es gibt viele Marxismen;
Bsp.: den von Marx und Engels, von Lenin, den der Frankfurter Schule, den der Unterentwicklung/III. Welt

- es besteht ein Dualismus von Wissenschaft und sozialer Bewegung;
Bsp.: einige Schriften von Marx/Engels wirken deterministisch und abstrakt, andere wie das "Manifest" oder der "Brumaire" konkret und voluntaristisch-verändernd

- der Determinismus (Automatismus): wenn man etwas als vorherbestimmt betrachtet, kann das zu einer Fixierung des Denkens/Handelns führen; der Weg erscheint klar, das Endziel per se als notwendig und gut

- reagiert dieses Sozialismusverständnis nicht auf zeitgenössischen "Wissenschaftsmoden"?
Bsp.: Linkshegelianismus, Evolutionslehre von Charles Darwin

- ein festes und auf ein bestimmtes Endziel fixiertes Geschichts- und Gesellschaftsbild, kann die Frage aufwerfen, ob man den Weg dorthin nicht etwas "verkürzen" könne, z. B. durch Terror und Gewalt

- diejenigen, die dem als wissenschaftlich begriffenen Weg und Endziel im Wege stehen, könnten als "Feinde des Sozialismus" gebranntmarkt werden;
Bsp.: Wladimir I. Lenin, Leo Trotzki, Mao Tse-tung, Lin Piao, Pol Pot/Saloth Sar

- wenn man so von der Richtigkeit des Sozialismus' und von einem bestimmten Weg dahin überzeugt ist, stellt sich die Frage, ob man trotz des vorgeblichen Atheismus nicht eine neue Heilslehre vertritt

- hat dieses Sozialismusverständnis nicht in Wahrheit religiöse und irrational-psychologische Motive?
a) christlich-jüdischer Kulturhintergrund mit Vorstellung einer Eschatologie, einer Lehre von den letzten Dingen (τα εσχατα/ta eschata) - bei Marx und Engels selbst und bei vielen ihrer Anhänger
b) psychologische Motive:
Friedrich Nietzsche: Sozialismus als Philosophie des Neids und Grolls (Nivellierung nach unten);
Walter Theimer: Sympathie für Marxismus aus persönlicher Unzufriedenheit (nicht aus Wissenschaftlichkeit)


5. Literaturliste

- Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft;
  in: Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, S. 103 - 140
- Kolakowski, Leszek: Der Mythos der menschlichen Einheit
  in: Der Mensch ohne Alternative, München 1976, S. 287 - 310
- Lenin, W. I.: Staat und Revolution
  in: Lenins Werke Bd. 25, Berlin 1981, Kap. III., S. 426 - 440
- Marx, Karl: Randglossen zur Kritik des Gothaer Programms
  in: Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, S. 11 - 28
- Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte;
  in: MEW Bd. 8, S. 111 - 207
- Marx, Karl/'Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei; London 1848;
  in: MEW Bd. 4, S. 459 - 493
- Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister; 1878 - 80 KSA 2
- Thaa, Winfried: Marx und die Entfremdung.
  Verdienste und falsche Versprechungen der Entfremdungskritik,
  in: Sowi 28 Jg. H 3/1999, S. 208 - 214
- Theimer, Walter: Der Marxismus - Lehre, Wirkung, Kritik; Graz 2005
- Vester, Michael: Der Dampf-Marxismus von Friedrich Engels
  in: Prokla 43, 11. Jg., S. 85 - 102










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